"MC laboratory" von Rolf Bergmeier

Die Arbeit "MC laboratory" besteht aus einem 57cm hohen, komplett mit Blei ummantelten Holztisch auf dem sich vier unterschiedliche Skulpturen aus Blei befinden. Sie basieren alle auf der Arbeit "Öl auf Holz #26", die für ihre Herstellung zunächst gescannt, dann digital variiert und schließlich im 3D-Druck als Formen für das Gussverfahren hergestellt wurde. 

Der Titel führt den Betrachter zunächst in die Irre: "MC" steht hier nicht für "Master bzw. Mistress of ceremonies", sondern für die Initialen der Begründerin der Radiochemie Marie Curie (1867-1934). Der Hinweis auf ihr Labor legt die Vermutung nahe, dass wir hier eine Versuchsanordnung vor uns haben.
  

 
MC laboratory, 2015 (#051)
5-teilige Arbeit aus Blei auf Holz und Hartblei
162 x 57 x 86 cm (ca. 140 kg) 
Öl auf Holz #26

Die erste Skulptur (v.l.) ist eine Kopie der "Öl auf Holz #26", eine Arbeit aus 2004, die einen Würfel mit einer Kantenlänge von 16cm umschreibt.

 
 
Die Arbeit wurde 2004 im Kunstverein Buchholz gezeigt und dort für die Sammlung (#048) erworben. Eine Ausstellungsansicht findet sich "Kunstvereins-Quartett" des Künstlerduos Ohio (Uschi Huber & Jörg Paul Janka). Die "Öl auf Holz #26" befindet sich auf der linken Seite.

 
 
Am 10.3.2015 "entwendet" der Künstler die Arbeit aus der Sammlung. Das Vorhaben, eine Rückgabe durch Veröffentlichung der Bilder einer "Überwachungskamera" zu erzwingen  ("Soll die Öffentlichkeit wirklich solche Bilder sehen?!") scheitert, weil Bergmeier als Reaktion darauf den "Erpresserbrief" in einer Pressemitteilung veröffentlicht.

 
 
Monate später erhält die Sammlung "Öl auf Holz #26" zurück. Allerdings in überarbeiteter Form, migriert zu "R.I.D. #26"

 
Variante 1
Im Vergleich zum ersten Würfel umschreibt dieser Würfel das doppelte Volumen und ist ein Verweis auf eines der drei klassischen Probleme der antiken Mathematik: Die Würfelverdoppelung, auch bekannt als Delisches Problem.

Überliefert ist, dass die Bewohner der Insel Delos um 400 v.Chr. während einer schweren Seuche (Pest?) ein Orakel um Rat gefragt haben, das sie anwies, den würfelförmigen Altar im Tempel der Insel in seinem Volumen zu verdoppeln. Trotz prominenter Ratgeber - u.a. Platon - gelang es ihnen nicht, denn eine Lösung mit Zirkel und Lineal ist nicht machbar. Man geht davon aus, dass erstmals Carl Friedrich Gauß den Beweis für diese Unmöglichkeit erbringen konnte.
Variante 2
Ausgangspunkt ist hier das Element Polonium, das von 1898 vom Ehepaar Marie und Pierre Curie postuliert wurde und nach Marie Curies Heimat Polen benannt wurde.

Die α-Form von Polonium ist wohl die einfachste denkbare Kristallstruktur, eine kubisch primitive Packung. Bergmeier arbeitet hier mit der β-Form des Poloniums, einer rhomboedrisch verzerrten (gestauchter Würfel)  Variante (Der beschriebene Rauminhalt entspricht der "Öl auf Holz #26").

Polonium gehört zu den Zerfallsprodukten des radioaktiven Edelgases Radon und ist durch seine Alphastrahlung für Lungenkrebs (vgl. "Schneeberger Krankheit", erstmals bei Bergleuten in Schneeberg im Erzgebirge beschrieben ) verantwortlich. Es kann auch gezielt als Gift verwendet werden. Spuren davon fanden sich (2006) in der Wohnung von Dimitri Kowtun - einem Geschäftspartner des mit Polonium vergifteten Alexander Litwinenko - in der Erzbergerstraße 4 in Hamburg-Ottensen (ca. 600 m Luftlinie von Bergmeiers Atelier).
Variante 3
Die dritte Variante nimmt Bezug auf Albrecht Dürers Kupferstich "Melencolia I" von 1514. Dieser gehört neben "Ritter, Tod und Teufel" und "Hieronymus im Gehäus" zu den sog. drei Meisterstichen Dürers.

"Melencolia" wird immer ein "Tummelplatz der Deutungen" bleiben (Heinrich Wölfflins, 1923)

Nach einer Theorie von Ishizu Hideko ist der rätselhafte Polyeder (ein abgeschnittener dreieckiger Trapezoeder) Dürers Versuch das Delische Problem der Würfelverdoppelung zu lösen.

Bergmeier folgt dieser These (Er unternimmt hier eine Verdoppelung des Volumens von "Öl auf Holz #26" im Sinne Dürers.) und sieht im Scheitern des Engels die Ursache für dessen Melancholie = Depression.

 
"Melencholia I", 1514
Albrecht Dürer
Fazit
Bei der Auseinandersetzung mit „MC laboratory“ wird es sehr bald sehr komplex, es geht um die Schnittmenge, die die Sphäre des Wahren mit der Sphäre des Wirklichen bildet.
(Rolf Bergmeier, 2016)

In "MC laboratory" rückt er, ausgehend von einem Würfel ("Ich bin ein plastisch arbeitender Künstler, der höchste Abstraktionsgrad im Bereich der Plastik ist im Würfel erreicht.") drei Krankheiten ("Einige der kreativsten Gegenspieler des Menschen sind Krankheiten.") in diese Schnittmenge: eine tödliche Seuche, Krebs und Depression. Sie sind die spannendsten Ergebnisse einer Reihe von Recherchen über Würfel, die in Verbindung mit Krankheiten stehen.

Die drei beschriebenen Varianten werden zu Platzhaltern der ihnen zugewiesenen Krankheiten. Allein können sie diese Funktion nicht erfüllen, denn sie benötigen als Narrativ mindestens den Formen- und Größenvergleich mit der Kopie von "Öl auf Holz #26" auf der linken Seite.

Elementares Blei in kompakter Form wird kaum über die Haut aufgenommen und ist für den Menschen nicht giftig. Toxisch sind gelöste Bleiverbindungen und Bleistäube, trotzdem animiert die Ästhetik elementaren Bleis ("gefrorenes Licht") nicht unbedingt zur neugierigen Berührung. Das mag auch damit zusammenhängen, dass wir Blei zur Strahlenabschirmung verwenden, was uns in dem "hinter dem Blei Verborgenen" eine weitaus größere Gefahr vermuten lässt.

Bergmeiers Motivation ist nach eigener Aussage "die Lösung poetischer Probleme", die ihm bei der Untersuchung eines "direkten Wirklichkeitszuganges" begegnen. In "MC laboratory" ist (noch) keine Lösung in Sicht, die Versuchsanordnung ist ein öffentlich gemachter Befund, der eigentlich "RB laboratory (in progress)" heißen müsste.

Das im Februar 2016 angekündigte und noch nicht erschienene Booklet zeugt von diesem Dilemma.

  

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